„Ich glaube der Trick bei Freundschaften besteht darin, Menschen zu finden, die besser sind als man selbst- nicht klüger oder cooler, sondern liebenswürdiger und großzügiger und nachsichtiger-, und ihnen zuzuhören, wenn sie dir etwas über dich sagen, egal wie schlecht- oder gut- es ist, und ihnen zu vertrauen, was der schwierigste Teil ist. Aber auch der beste.“
Hanya Yanagihara „Ein wenig leben“
Es ist 5.30 Uhr in New York. Der Jetlag hat mich voll im Griff. Der perfekte Ort und die ideale Zeit, um über ein Buch zu schreiben, welches mich Ende letzten Jahres noch tief beeindruckt hat und das mich gedanklich immer noch festhält.
Yanagihara erzählt in ihrem viel beachteten Buch von der lebenslangen Freundschaft vier New Yorker Männern. Jude, Willem, JB und Malcolm lernen sich am Ende ihres Studiums kennen und bleiben sich von da an durch die Höhen und Tiefen ihres Lebens verbunden. Sie alle treiben die kleinen Sorgen des Lebens um: Die Suche nach der künstlerischen Identität, die Erwartungen von anderen oder auch die sexuelle Ausrichtung. Doch schnell wird klar, dass Jude`s Themen und Ängste sehr viel tiefer gehen. Er ist der Mittelpunkt dieser Geschichte. Um ihn dreht sich fortan die ganze Erzählung. Stück für Stück erfährt der Leser durch Rückblenden mehr über Judes furchtbare Vergangenheit und wie sie sein Leben auch in der Gegenwart noch beeinflusst.
Die Beschreibungen physischer Gewalt und die Abgründe, in die es einen als Leser stürzt, begründen die Ruf, der diesem Buch schon weit voraus eilt. Dies zu lesen tut weh, ist so schmerzhaft, dass man das Buch manchmal für ein paar Tage aus der Hand legen muss. Wenn Jude uns mitnimmt, ins Badezimmer zu den Rasierklingen oder zurück ins Motel seiner Vergangenheit, dann ist das manchmal nur schwer zu ertragen.
Judes innerer Kampf, seine Selbstzweifel, seine Suche nach dem Sinn seinen (schweren) Lebens machen dieses Buch so menschlich und werfen die Fragen auf, die sich vermutlich jeder im Leben irgendwann stellt: Wofür lohnt es sich zu leben? Für den Job? Die Familie? Geld? Ruhm? Für sich selbst?
Für mich ist dieses Buch vor allem ein Buch über Freundschaft und Liebe. Sind Freundschaft und Liebe vielleicht nur zwei Worte für dieselbe Sache? Folgt man Yanagihara so können sie es sein, wenn man mutig genug ist, es dazu kommen zu lassen.
Wie liebevoll, warm und detailliert Yanagihara von den kleinen und großen Gesten der Freundschaft und später Liebe zwischen Jude und Willem erzählt, ist für mich eine der großen Stärken dieses Buches. Man folgt ihr gern durch die knapp 1.000 Seiten einer Geschichte von Freundschaft und Liebe. Weil diese in einer überbordenden Form erzählt wird, die die Leserinnen und Leser, die sich auf sie einlassen, hineinzieht und festhält, bis zum Ende.
Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben. Roman. Aus dem Englischen von Stephan Kleiner. Hanser Berlin Verlag, München 2017. 960 Seiten, 28 Euro